Authentisch sprechen: Gibt es zu viel Authentizität?

Authentisch sprechen: Gibt es zu viel Authentizität?
„Guten Tag! Schön, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Ich habe gar nicht mit so vielen Zuhörern gerechnet, also – toll! Ich gebe zu, ich bin ein bisschen aufgeregt – dies ist mein erster Vortrag auf so einer großen Veranstaltung … aber ich hoffe, ich kann Ihnen trotzdem einiges mitgeben.“
So etwa lautete der Anfang eines Vortrags, den ich im letzten Herbst auf einer Tagung hörte. Ich hatte mich zwischen zwei interessanten Themen für diesen Programmpunkt entschieden und war gespannt auf den Inhalt. Die Rednerin sah klasse aus, der Titel klang knackig, die Aufmachung versprach das Beste. Und dann startete sie mit diesen Worten.
Ich merkte, dass sie im Saal einige verständnisvolle Blicke und leise Sympathiebekundungen erntete. Bei mir jedoch sank die Kompetenzerwartung an die Rednerin schlagartig um etliche Prozentpunkte und ich dachte: „Oje, wenn das mal was wird …“
Authentisch sprechen ist das nicht
Dies ist für mich ein Beispiel von zu viel Authentizität. Denn in diesem Fall lenkte die Rednerin gleich zu Beginn meine Aufmerksamkeit auf eine Sache, deretwegen ich ganz bestimmt nicht den anderen Vortrag hatte sausen lassen: Ihre eigene Unsicherheit. Aus meiner Sicht gab es dazu überhaupt keinen Grund – sie wirkte selbstbewusst und präsent und hätte einfach mit der Einleitung ihres Themas starten können. Hätte sie den Satz „Ich bin ein bisschen aufgeregt“ mit einem Augenzwinkern gesagt, nachdem ihr vor Aufregung der Laserpointer runtergefallen wäre, hätte ich ihn als stimmig empfunden. Da wäre meine Aufmerksamkeit sowieso schon bei ihrer Unsicherheit gewesen, und der Satz hätte zu meinem Erleben gepasst. Aber auf diese Weise war er ein Störsignal.
Zuerst die Sache, dann die Person
Diese Geschichte führt mich zu zwei Thesen:
- Authentizität ist prima, solange sie der Sache dient. Wenn sie das nicht tut, lenkt sie vom Eigentlichen ab.
- Sich authentisch zu fühlen ist etwas anderes als authentisch zu wirken.
Bei der Beantwortung der Frage, wie man beim öffentlichen Sprechen authentisch wirken kann, müssen wir diese beiden Dinge beachten.
Authentizität ist prima, solange sie der Sache dient
„Die Sache“, das sind beim öffentlichen Sprechen drei Dinge: Der Nutzen deiner Zuhörer, die Beziehung zu deinen Zuhörern und dein eigenes Wohlgefühl.
1. Zuallererst muss sie dem Nutzen deiner Zuhörer dienen.
Möchtest du auf Dauer erfolgreich sprechen, dann hat der Erkenntnisgewinn deiner Zuhörer oberste Priorität. Ist dein Inhalt top, kannst du dir auch kleine Schwächen leisten, die dich dann umso sympathischer machen.
Beispiel: Der Facebook-Erfinder Mark Zuckerberg trägt bei öffentlichen Auftritten immer die gleichen Klamotten: Graues T-Shirt und Jeans. Laut eigener Aussage spart er auf diese Weise bei der Garderobenwahl Zeit, die er lieber ins Soziale Netzwerk steckt. Genial: wirkt authentisch und dient der Sache (und zudem Zuckerbergs Wiedererkennungswert).
2. Authentisch sein kann der Beziehung zu deinen Gesprächspartnern dienen.
Sie macht dich nahbar und sympathisch. Findest du authentische Worte, traut man dir keine Falschheit zu und wird dir tendenziell Vertrauen schenken. Allerdings hat dieses Ziel immer zweite Priorität hinter dem Zuhörernutzen. Eine amerikanische Studie macht deutlich, dass Mitarbeiter mit allzu authentischen Führungskräften sich eher minderwertig fühlen und sich selbst weniger trauen, im Job authentisch zu sein. (Studie: „The Dangers of Being Authentic“, Adam Grant 2016)
Das Maß von Authentizität muss also immer mit den Erwartungen an die eigene Rolle abgeglichen werden.
Beispiel: Von meiner Chefin möchte ich nicht unbedingt wissen, was sie in ihrer Jugend so privat getrieben hat und was es Neues in ihrem Liebesleben gibt. Von meiner Friseurin aber höre ich gern Anekdoten aus ihrer wilden Punk-Zeit und Aktuelles von der Männer-Front. Ich liebe ihre Geschichten, mit denen sie mich beim Haareschneiden unterhält. Der Witz beim Erzählen ist ihre Stärke und ich komme auch deshalb immer wieder gern zu ihr.
3. Deine Authentizität darf deinem eigenen Wohlgefühl dienen.
Wenn sie dir zuhören, gehen andere Menschen mit dir in Resonanz und nehmen wahr, wenn es dir nicht gut geht. Deshalb mag ich den Begriff „Bühnen-Wellness“: Du sprichst überzeugender, wenn du dich dabei auch körperlich wohl fühlst. Richte also dein Verhalten auch danach aus, was dir selbst guttut.
Beispiel: Es gibt einen großartigen TED-Talk von einer Wissenschaftlerin, die eine Studie zur „Kraft der Gedanken“ vorstellt. Die Frau trägt ein sehr schickes, enges Kostüm und Stilettos. Während ihres Vortrags gerät sie zunehmend in Schwierigkeiten mit ihrer Atmung. Ihre Stimme klingt hoch und gepresst, und ihr Stress überträgt sich auf mich. Ich kann erkennen, dass sie den Bauch einzieht und viel zu hoch atmet – möglicherweise eine Folge ihrer engen Kleidung und der hohen Schuhe. Obwohl mich das Thema wirklich interessiert, fällt es mir schwer, ihr zuzuhören. Ich ahne, dass eine komfortablere Kleidung die Sache für beide Seiten leichter machen würde.
Sich authentisch zu fühlen ist etwas anderes, als authentisch zu wirken
„Paul, nimm die Hände aus der Hosentasche.“ – „Aber ich mag das so.“ – „Sieht aber doof aus.“ – „Aber wo soll ich meine Hände denn sonst hintun?“ – Naja, nicht in die Hosentasche halt.“ – „Maann!! Ich bin eben so.“
Wie Paul und sein Vater sich schlussendlich geeinigt haben, habe ich nicht mehr mitgekriegt am Rand des Gesprächs, das ich neulich in einem Restaurant belauschen durfte. Vermutlich war der Weg zum Glück für beide noch hart.
Einer der großen Sprecherzieher aus der Vergangenheit meines Fachs, Horst Coblenzer, formulierte es so: „Gewohnheit ist kein Güteprädikat“. Das bedeutet: Nur weil sich etwas aus Gewohnheit irgendwie richtig anfühlt, muss es nicht zielführend sein. Das kann jeder beobachten an seinem eigenen Ess- und Konsumverhalten, am Verhalten im Konflikt oder eben auch beim Sprechen vor Menschen.
Die Außenwirkung beinhaltet immer auch Situation und Anlass
An Pauls Frage „Wohin mit den Händen“ kann man etliche Aspekte des Themas „authentische Wirkung“ aufhängen. Wenn jemand auf einer Bühne einen hochwertigen Vortrag hält und dabei die Hände in den Hosentaschen hat, wie wirkt der dann? Bequem? Lässig? Unhöflich? Da wird wohl jeder eine andere Interpretation treffen. Ich würde dieser Person auf jeden Fall raten, die Hände außerhalb der Hose zu verwahren, um eine natürliche Gestik zu ermöglichen und die Wirkung der eigenen Worte damit zu unterstützen. Ob sich diese Person dabei sofort wohl fühlt oder ob sie dafür noch ein bisschen üben muss, interessiert die Zuhörer*innen am Ende nicht. Und ich habe schon manchen Menschen gesehen, dessen Komfortzone entschieden außerhalb einer Bühne lag – und der trotzdem auf authentische, professionelle und kompetente Weise geredet hat.
Die Lösung: ausprobieren, Feedback, ausprobieren, Feedback.
Zwischen dem eigenen Wohlgefühl und einer stimmigen Außenwirkung können Welten liegen. Und das ist verdammt verunsichernd. Das ist der Grund, warum ich für die meisten Lernprozesse eine Begleitung empfehle und auch selbst nutze. Diese Reflexion – eine Rückmeldung, die einem die eigene Außenwirkung widerspiegelt –, kann extrem viel Sicherheit geben und das Lernen um ein Vielfaches erleichtern.
Wenn du wissen willst, was für dich beim Sprechen gut wirkt, komm in eines meiner Seminare. Zum Beispiel „Rock the stage!“ – das eintägige Gruppentraining, in dem du deine persönliche Bühnen-Bestform findest. Hier findest du Infos zum Seminar und zu anderen Angeboten.
Authentische Grüße schickt dir
Deine Anne

Anne Kühl
Dipl.-Sprecherin und Sprechtrainerin
Wie kannst du deine Stimme in einem Verkaufsgespräch optimal einsetzen? Wie lernt man reden? Wie kriegt man schwierige Worte wie "Authentizität" mühelos über die Lippen? Und wie klingst du gut, auch wenn du erkältet bist?
Antworten auf diese und andere Fragen findest du in meinem Blog!
Anne Kühl Dipl.-Sprecherin, Dipl.-Sprecherzieherin
Helmholtzstraße 22 | 22765 Hamburg | Telefon 0049 - 171 - 4890424 | sprechen (at) annekuehl.de
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